Unitarier - Religionsgemeinschaft freien Glaubens e.V. Unitarier - Religionsgemeinschaft freien Glaubens e.V.

Mitgefühl: Mitgliederbeitrag von Rica Kaufel

Wie die unitarischen Grundgedanken meinen Alltag und meinen Bezug zu meiner Umwelt beeinflussen

M i t g e f ü h l

Warsan Shire, eine britische Dichterin mit somalischen und kenyanischen Wurzeln, schrieb in ihrem Gedicht What They Did Yesterday Afternoon:

"später am Abend

hielt ich einen Atlas auf meinem Schoß

ließ meine Finger über die ganze Welt gleiten

und flüsterte

wo tut es weh?

sie antwortete

überall

überall

überall"

Dieses Gedicht wurde in den letzten Jahren und Monaten zum Klagelied meines unitarischen Herzens. Denn wir glauben, dass alles, was ist, eine Ganzheit bildet,* und dass wir so immer Teil dieses Zusammenhangs*sind. In Bezug auf Humanität und Menschheit bedeutet das auch, dass die Unfreiheit des Einzelnen immer die Freiheit eines jeden infrage stellt, und dass menschliches Leid, so fern es einem auch scheinen mag, immer uns alle betrifft.

Wo tut es weh? Überall, überall, überall.

Aber Teil des Ganzen zu sein bedeutet auch, dass Eigenwohl und Gemeinwohl letztendlich nicht im Konflikt zueinander, sondern in einer Symbiose miteinander stehen. Und so steckt in dieser Klage auch der Appell, der uns vom Überwältigtsein zum Handeln und von Verzweiflung zu Verantwortung führt:

Denn wenn in Zeiten von Krieg und Klimakatastrophe, von Inflation und wachsender Ungleichheit, von Angst und Unsicherheit unsere Frage nicht nur lautet "Wie tut mir das weh?", sondern auch "Wo tut es am meisten weh?" und " Wer ist am stärksten betroffen?", dann zeigt uns die Antwort auf diese Frage, wo wir ansetzen müssen, um den Schmerz der Welt – und damit auch unseren eigenen – zu lindern und zu heilen.

In meinem Leben versuche ich mich von diesem Ansatz leiten zu lassen. Das klappt nicht immer, den niemand ist perfekt. Aber es klappt manchmal, und an solchen Tagen fühle ich mich mit der Welt im Einklang.

Als es im letzten Sommer ein paar Tage so unerträglich heiß war, fragte ich mich, wo tut es am meisten weh, und brachte daraufhin dem Obdachlosen, an dem ich auf dem Weg zur Arbeit immer vorbeikomme, eine große Flasche Wasser mit. Als die Inflation die Preise in die Höhe trieb, fragte ich mich, wo tut es am meisten weh, und spendete daraufhin an die Tafel. Das sind keine großen Aktionen und sie werden die Welt auch nicht dramatisch verändern. Aber diese kleinen Handlungen setzen mich in Verbindung mit dem großen Ganzen; sie erinnern mich, dass ich Teil des Ganzen bin. Das gibt mir Halt im Leben, doch es macht mir auch bewusst, dass ich im Gegenzug auch anderen Halt geben muss, Fremden und Freunden, denn sie alle sind Teil meiner Welt, und ich bin Teil ihrer Welt.

* Wörtliche Zitate aus den Grundgedanken: dem zweiten Über unitarischen Glauben.